01.07.2022

BMF präsentiert Kriterien, woran Umsatzsteuerhinterziehung in der Lieferkette erkennbar ist

Ein neues BMF-Schreiben vom 15.06.2022 regelt, wann das Finanzamt den Vorsteuerabzug und Steuerbefreiungen versagen muss. Wir zeigen, worauf es jetzt für redliche Unternehmer ankommt.

Wichtigste Punkte:

  • Bei Kenntnis oder Kennen-müssen von Steuerhinterziehung auf anderen Handelsstufen sind Steuerbefreiung und Vorsteuerabzug zu versagen.
  • Das Finanzamt hat die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für eine Versagung gegeben sind.
  • Wer als Unternehmer geeignete und vernünftige Maßnahmen ergreift, um Steuerhinterziehung zu verhindern (Tax Compliance), ist geschützt.
  • Fehlen entsprechende Maßnahmen, darf das Finanzamt unterstellen, dass der Unternehmer von Steuerhinterziehung wusste oder wissen musste.

 

Worum geht es?

Bei der Umsatzsteuer wird der Unternehmer als eine Art Steuereinsammler für den Staat tätig. Auf jeder Rechnung weist er zusätzlich zu seinem Netto-Umsatz die Umsatzsteuer aus. Die Steuer meldet er an und führt sie an das Finanzamt ab. Dass die Umsatzsteuer strafrechtlich so häufig ein Thema ist, liegt vor allem an zwei Rechten des Unternehmers:

  • Erhält der Unternehmer von einem anderen Unternehmer eine Rechnung, zahlt er die ausgewiesene Umsatzsteuer. Er kann die Steuer jedoch mit der nächsten Anmeldung als Vorsteuer geltend machen und von seiner eigenen Umsatzsteuerlast abziehen (§ 15 Abs. 1 S. 1 UStG).
  • Liefert der Unternehmer in das europäische Ausland, ist sein Ausgangsumsatz von der Umsatzsteuer befreit (§ 4 Nr. 1 Buchstabe b i.V.m. § 6a UStG). Die Umsatzbesteuerung ist dann Sache des Empfängerlandes.

 

Betrugsanfälligkeit der Umsatzsteuer

Dieses System ist anfällig für Missbrauch in verschiedenen Varianten. In der Praxis sind vor allem die folgenden Situationen wichtig:

  • Der Vorsteuerabzug setzt lediglich eine formal ordnungsgemäße Rechnung voraus. Das Finanzamt prüft nicht jede Rechnung. Die Berechnung der Umsatzsteuer erfolgt weitgehend durch den Unternehmer selbst. Dies macht es relativ leicht, durch unzutreffende oder gefälschte Eingangsrechnungen eine Vorsteuererstattung zu erschleichen.
  • In vielen Fällen von Umsatzsteuerbetrug werden Waren tatsächlich oder nur auf dem Papier innerhalb der EU grenzüberschreitend geliefert. Dann schuldet grundsätzlich der Empfänger im Bestimmungsland die Umsatzsteuer. In einer betrügerischen Lieferkette führt dieser jedoch keine Steuer ab und verkauft die Ware verbilligt an einen anderen Händler. Bevor er entdeckt wird, verschwindet er und wird zum sog. Missing Trader. Seine Position nimmt dann häufig ein anderer Missing Trader ein, bis auch dieser ersetzt wird. In einem Umsatzsteuerkarussell wird die Ware ggf. mehrfach gehandelt, wobei sie durch die auf jeder Stufe hinterzogene Umsatzsteuer verbilligt wird.

 
Ehrlich agierende Unternehmer können mit betrügerisch verbilligten Preisen nicht konkurrieren. Der Wettbewerb wird verzerrt. Hinter solchen Machenschaften stehen häufig organisierte Tätergruppen. Für redliche Unternehmer kann sehr riskant sein, dass sie häufig unerkannt eingebunden werden, um die Entdeckung des Missbrauchs zu erschweren. Am Ende sind sie dann häufig die einzigen, die für die Finanzbehörden greifbar oder zahlungskräftig genug sind, um für den Steuerschaden aufzukommen.
 

Bekämpfung des Missbrauchs

Der Missbrauch des Mehrwertsteuersystems wird präventiv durch die europäischen Finanzbehörden bekämpft. Insbesondere durch Informationsaustausch und zwischenstaatliche Maßnahmen sind Märkte und Verbindungen unter Marktteilnehmern transparenter geworden. Kriminell agierende Unternehmer können durch Frühwarnsysteme wie EUROFISC zumindest schneller entdeckt werden. Der Teufel steckt jedoch oft im Detail. So ist bereits die Qualität der in das System eingepflegten Daten in den Mitgliedsländern unterschiedlich. Auch die Vorgehensweise der lokalen Steuerbehörde kann sehr verschieden ausfallen.

Flankiert wird diese präventive Bekämpfung durch eine strikte Rechtsprechung und Gesetzgebung. Der EuGH hat bereits (Jahr) entschieden, dass es dem Gemeinschaftsrecht widerspricht, wenn umsatzsteuerliche Rechte wie Vorsteuerabzug oder Steuerbefreiung missbraucht werden. Hieraus hat der EuGH abgeleitet, dass Vorsteuerabzug und Steuerbefreiung zu versagen sind, wenn der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass es auf irgendeiner Stufe der Handelskette zu einer Steuerhinterziehung gekommen ist.
 
Der deutsche Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung weitestgehend in nationales Recht überführt. Im Jahr (Jahr) hat er § 25f UStG eingeführt. Dieser schreibt die Versagung von Vorsteuerabzug und Steuerbefreiung als zwingende Rechtsfolge vor, wenn der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass irgendein Beteiligter auf irgendeiner Handelsstufe eine Steuerhinterziehung (§ 370 AO) oder eine Schädigung des Umsatzsteueraufkommens (§ 26c UStG) begangen hat.
 

Bislang offene Fragen

Die Reaktion auf § 25f UStG war unter Praktikern sehr gemischt. Kritisiert wurde u.a., dass die offenen Fragen der EuGH-Rechtsprechung unbeantwortet blieben und sich bei § 25f UStG nun unverändert stellten:

  • Wer trägt die Beweislast für die Umstände, die zur Versagung von Vorsteuerabzug oder Steuerbefreiung führen?
  • Wann hätte der Unternehmer von steuerschädlichem Vorgehen in der Handelskette wissen müssen?
  • Wie können sich redliche Unternehmer vor entsprechenden Vorwürfen schützen?

 
Einige dieser Fragen werden in dem BMF-Schreiben vom 15.06.2022 nunmehr aus Sicht der Finanzverwaltung beantwortet.
 

Kernaussagen des BMF

Wichtig sind zunächst die folgenden Aussagen des BMF:

  • Das Finanzamt muss nachweisen, dass der Unternehmer von steuerschädlichem Verhalten in der Lieferkette wusste oder hätte wissen können. Diese Klarstellung ist gut, weil in der Praxis häufig eine Beweislastumkehr zum Nachteil des Unternehmers zu beobachten ist. Faktisch erwarten gerade Steuerfahndungsstellen häufig, dass der Unternehmer nachweist, entsprechende Vorgänge nicht gekannt haben zu können. Ein solcher Negativbeweis ist jedoch kaum zu führen.
  • Der Unternehmer muss sich eine entsprechende Kenntnis oder vorwerfbare Unkenntnis seiner Mitarbeiter zurechnen lassen (§ 166 BGB analog). Diese Sichtweise entspricht gefestigter Rechtsprechung der Finanz- und Strafgerichte. Sie ist problematisch, weil sie jedem Unternehmer, der seinen Betrieb arbeitsteilig organisiert, eine unlimitierte Haftung auferlegt. Zum anderen wird nicht danach differenziert, ob der Mitarbeiter sich entsprechend interner Vorgaben verhält. Damit wird auch das Wissen von Mitarbeitern zugerechnet, die sich ggf. ganz bewusst über interne Weisungen hinwegsetzen.
  • Es ist nicht erforderlich, dass es wegen steuerschädlichen Verhaltens in der Handelskette bereits zu strafrechtlichen Verurteilungen oder einer Ahndung als Ordnungswidrigkeit gekommen ist.
  • Das Finanzamt ist nicht an Entscheidungen von Strafgerichten gebunden. Dies bedeutet, dass zumindest auch im Fall einer Einstellung des Strafverfahrens das Finanzamt immer noch von Steuerhinterziehung ausgehen kann und die steuerlichen Rechte dann versagen muss.

 

Anhaltspunkte für „hätte wissen müssen“

Sodann nennt das BMF mehrere Anhaltspunkte, die dafürsprechen sollen, dass der Unternehmer von missbräuchlichem Verhalten hätte wissen können. Hiervon sei auszugehen, wenn

  • der Unternehmer durch einen Dritten aufgefordert/gebeten wird, sich an Umsätzen zu beteiligen, bei denen der Dritte die Rahmenbedingungen für das Umsatzgeschäft vorgibt (z. B. Vermittlung von Beteiligten, Vorgabe von Einkaufs-/Verkaufspreisen, Zahlungsmodalitäten oder Liefer- bzw. Leistungswegen);
  • die Finanzierung des Wareneinkaufs erst nach erfolgtem Warenverkauf möglich ist;
  • (angebotene) Mehrfachdurchläufe von Waren festgestellt werden;
  • Waren oder Leistungen angeboten werden, deren Preis unter dem Marktpreis liegt;
  • branchenunübliche Barzahlungen oder eine ungewöhnliche Zahlungsabwicklung erfolgen;
  • die Ansprechpartner in den Unternehmen oder die Ansprechpartner die Unternehmen häufig wechseln;
  • bei den Beteiligten berufliche Erfahrung und Branchenkenntnis fehlen;
  • die Beteiligten wiederholt ihren Unternehmenssitz verlegen;
  • Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Beteiligten bestehen (z. B. aufgrund von Abweichungen des Gesellschaftszwecks oder der Geschäftsadressen zu den Angaben laut Handelsregister);
  • der Gesellschaftszweck laut Handelsregister nicht dem tatsächlich ausgeübten Gesellschaftszweck entspricht;
  • dem Unternehmer eine Warenmenge oder ein Leistungsumfang angeboten wird, die für die Größe des Unternehmens in der Branche unüblich ist (z. B. ungewöhnlich hohe Stückzahlen trotz Neugründung);
  • die Beteiligten über keine ausreichenden Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme verfügen (z. B. Website ohne Impressum, Rufnummer oder E-Mail-Adresse);
  • ungewöhnliche Leistungsbedingungen vorliegen (z. B. die Leistungen werden von einem oder an einen nicht an dem Umsatz beteiligten Unternehmen erbracht);
  • durch den Unternehmer über zugängliche Informationsquellen (z. B. Internetrecherche) festgestellt werden kann, dass die Anlieferung der Waren an die vom Abnehmer angegebene Lieferadresse nicht möglich erscheint.

 
Ungeachtet der Frage, wie man diese Kriterien im Einzelnen oder insgesamt bewertet: Sie zeigen, dass jeder Unternehmer sich eingehend mit seinen Geschäftspartnern und den Einzelheiten eines Geschäfts befassen muss. Die Zeiten, in denen es genügte, eine Ausweiskopie anzufordern und die Gültigkeit der USt.-ID abzufragen, sind vorbei. Gerade wer grenzüberschreitend tätig ist und mit Waren handelt oder in Märkte liefert, die für Umsatzsteuerbetrüger interessant sind, muss deutlich mehr machen, um ggf. existenzbedrohende Rechtsfolgen zu vermeiden. Denn das BMF stellt klar: die Versagung der steuerlichen Vorteile ist zwingend und auch nachträglich vorzunehmen.

Schutz durch geeignete Strukturen

Bereits die Finanz- und Strafgerichte hatten in der Vergangenheit betont, dass der Unternehmer geschützt wird, der vernünftige Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerhinterziehung ergreift. Diesen Aspekt hebt nunmehr auch das BMF hervor. Umgekehrt gilt: wer nichts oder aus Sicht des Finanzamts nicht genug unternimmt, hat es schwer. Das Finanzamt darf dann unterstellen, dass er von der Hinterziehung wusste oder wissen musste. Dies ist zunächst steuerlich sehr riskant. Auch strafrechtlich erschwert es die Verteidigung, wenn geeignete Compliance-Maßnahmen fehlen. Wichtig ist, hier nicht „von der Stange zu kaufen“: das System muss zum Unternehmen passen und realistische Vorkehrungen definieren, die im Alltag gelebt werden können.

 

Kontaktieren Sie uns gerne, wenn Sie sich gegen steuerliche und strafrechtliche Risiken schützen wollen. Und gerne auch dann, wenn bereits Ermittlungen oder Verfahren laufen. Wir verfügen über jahrelange Erfahrung in diesem Bereich und geben gerne eine Einschätzung ab.